Der Sinn ist im Handwerk überflüssig, Gunnar Barghorn im Interview
Gunnar Barghorn ist Chef von 100 Handwerkerinnen und Handwerkern. Daraus hat sich eine Führungs- und Organisationsphilosophie entwickelt, "jeden Menschen den sein oder werden zu lassen, der dieser gerne sein möchte."
Auf seiner persönlichen Webseite www.humanunternehmer.de stellt er Ideen und Ansätze für eine neue Art der Führung vor.
Der Autor und Redner ist dabei streitbar, was die unterschätzte Wahrnehmung der Berufe im Handwerk angeht. Er sieht wahre Wertschöpfung im Sinne des New Work nicht (nur) in der Teppichetage. Daher bedarf es auch keines eigenes Purpose.
Im Interview spricht Gunnar Barghorn über Führung, Employer Branding und den Sinn im Handwerk.
Herr Barghorn, was hat Sie bewegt vom Unternehmer in einer gewerblichen Branche sich zum Botschafter einer neuen Arbeitskultur zu entwickeln?
Oh, die Antwort ist ein wenig länger. Ich wollte schon mit Übernahme des elterlichen Unternehmens eine Organisation schaffen, die sich aus sich selbst heraus ständig neu erfindet und vor allem den Fokus aller Beteiligten auf den Kundennutzen und Geschwindigkeit legt. Dabei lege ich bei dem Aspekt Geschwindigkeit Wert darauf, dass diese nicht durch mehr Energieeinsatz (Druck), sondern durch weniger Reibung (Sog) erzeugt wird.
So hatten wir dann in gut zwanzig Jahren schon allerhand geschaffen, bis ich mich im November 2018 in einem Seminar für Unternehmer wiederfand. Dort machten wir einen andeutungsweisen „Warum-Prozess“, andere würden frei nach Steve Jobs sagen: connecting the dots. Jedenfalls kam dabei heraus, dass meine größte Leidenschaft ist andere Menschen zu inspirieren, wirklich etwas in ihrem Denken zu verändern und zum Handeln zu bewegen.
So entschied ich auf die Bühne zu gehen und darüber zu berichten was uns alles auf dem Weg zu einem Humanunternehmen wiederfahren ist, welche Narben wir uns eingefangen haben und welche Elemente tatsächlich funktionieren.
Welche Rolle spielt nach Ihrer Erfahrung der Purpose im Handwerk?
Ich halte diese ganze Purpose-Diskussion für erheblich überschätzt. Wer tatsächlich direkt am Wertschöpfungsprozess beteiligt ist, erlebt den Sinn seiner Arbeit jeden Tag auf ganz natürliche Weise. Dabei definiere ich den Wertschöpfungsprozess ausschließlich dadurch: aus einem Teil zwei machen oder aus zwei Teilen eines.
Alles links und rechts davon, darüber und darunter sind Begleitprozesse. Je nach Inhalt mal mehr und mal weniger weit von der tatsächlichen Wertschöpfung entfernt. Die Sinnsuche steigt mit zunehmender Entfernung vom Wertschöpfungsprozess.
Es ist zwar hart für die Betroffenen dies als Wahrheit anzuerkennen, aber: Wer heute das Bedürfnis nach einem Prozess zur „Entdeckung“ oder zumindest Herausarbeitung des Purpose bei sich selbst und/oder seinen Mitarbeitenden verspürt, der ist für die reale Welt schlicht egal.
Wie begründen Sie das?
Deshalb sind die Purpose-Prozesse und -Diskussionen gerade so am Start. Da sind Heerscharen von Berufen, die so aufgeblasen und überflüssig sind, dass diese sich sehr zurecht nach dem Sinn ihrer Arbeit fragen. Schwupps wird da eine wohlklingende Story draufgesetzt und es läuft wieder. So einfach ist das nicht. Ziel muss es sein, maximale Berührungsfläche zum tatsächlichen Leistungsempfänger zu erzeugen.
Dann wird jedem klar, WARUM er oder sie sich so engagiert und welche Folgen es hat, sobald das Engagement nicht passt.
Unsere Wirtschaft funktioniert problemlos, wenn alle Unternehmensberater, Broker, Fitnessstudios und jegliche ähnliche Berufe sechs Monate streiken würden. Manchmal glaube ich sogar es wäre ein Vorteil… Naja, egal. Wenn aber die Müllabfuhr, Handwerksbetriebe jeglicher Art und viele mehr mit echter Wertschöpfung auch nur eine oder zwei Wochen die Arbeit niederlegen – Bähm! Ein riesen Aufstand.
Das haben wir doch in der Corona-Pandemie wunderbar sehen können. Hauptthema im harten Lockdown war doch, dass die armen Menschen nicht zum Frisör können. Denk mal darüber nach.
Trend New Work: Was bedeutet das für ein Unternehmen wie Barghorn?
New Work ist Fritjof Bergmanns Begriffsschöpfung für eine neue Arbeit. Für echte Wertschätzung der Wertschöpfung. Für eine vollkommen andere Definition und Verteilung von Macht und Ohnmacht in den Unternehmen. Und, was machen wir daraus? Kickertische, Obstkörbe und bunte Büros.
Ich möchte zu gern wissen, wie viele der angeblichen „New Work-Anhänger“ sich tatsächlich mit Fritjof Bergmann und seinen Anliegen auseinandergesetzt haben und wie viele einfach nur dem nächsten Buzz-Word nachrennen.
Wir begreifen New Work als blue new work. Wir schauen ganz gezielt auf unsere Mitarbeitenden im Wertschöpfungsprozess. Diese tragen bezeichnender Weise nämlich alle einen Blaumann. Warum? Weil man sich bei echter Wertschöpfung eben dreckig macht, Gefahren aussetzt und deshalb Schutzkleidung benötigt. Es geht um Freiheit und Verantwortung für alle im Unternehmen, nicht nur für die „Teppichetage“.
„Arbeite wann, wo und so viel du willst“ ist dabei eines unserer Leitmotive.
Hinzu kommt unsere Teilhabe^4: Information, Entscheidung, Erfolg und Besitz wird bei uns auf die komplette Mannschaft ausgedehnt. Teilhabe ist kein Geschenk, sondern eine Verpflichtung.
Bei uns ist nichts geheim – wirklich gar nichts. Alle entscheiden, was sie für richtig halten – da sollte man Zeit investiert haben in die Frage, was der einzelne denn für richtig hält. Unser Erfolg geht zu einem Drittel an die Belegschaft – das ist nicht nur fair, es befriedigt auch ganz persönliche Bedürfnisse. Alle können sich substanziell mit Kapital am Unternehmen beteiligen – so heilen wir auch die kurzsichtigsten Erfolgsjäger und bringen ihren Fokus auf langjährige Perspektive.
Wo sehen Sie Motivationspunkte für Mitarbeiter gerade in Ihrer und verwandten Branchen?
Wir machen uns die Mühe für jeden Mitarbeiter herauszufinden, wie dessen individuelle Bedürfnislandschaft aus Freiheit vs. Sicherheit, Zugehörigkeit vs. Einzigartigkeit und einen Beitrag leisten vs. Persönlichem Wachstum aussieht. Danach gestalten wir Arbeitsplätze.
So erreichen unsere Mitarbeiter auf dem Weg zur eigenen Bedürfnisbefriedigung die Ziele des Unternehmens quasi als „Abfallprodukt“. Jenseits dieser Überlegungen braucht es natürlich keinerlei weitere Motivation – wozu denn auch?
Wie erfahren Führungskräfte, was ihre Mitarbeiter benötigen und sich wünschen?
Darauf hat ja schon die vorhergegangene Antwort eingezahlt. Diese Frage zielt aber vermutlich mehr auf das „Wie“. Nun, maßgeblich ist der intensive Dialog zwischen Mitarbeitern. Untereinander und natürlich genauso mit der jeweiligen Führungskraft. Führungskräfte in unserem Haus verstehen ihre Position nicht als Machtposition. Bei uns gilt: „Führung ist Dienstleistung.“
Neben den unzähligen Alltagsdialogen gibt es formal jährliche Zukunftsgespräche mit der jeweiligen Führungskraft und vor allem direkt mit dem Chef. Im Rahmen dessen stelle ich u.a. drei Fragen:
- Machst du die Arbeit, die du wirklich, wirklich willst?
- Was hindert dich daran, einen wirklich guten Job zu machen?
- Was brauchst du, um dich hier wirklich zuhause zu fühlen?
Diese drei Fragen beantworten 90 Prozent dessen, was wir wirklich wissen müssen.
Wie können und sollten Arbeitgeber ihre Mitarbeiter unterstützen, sich persönlich und im Sinne des Unternehmens zu entwickeln?
Auch hier steht wesentliches bereits in der vorangegangenen Antwort. Ergänzen kann ich das um folgendes: Wichtig ist, den einzelnen Menschen in seinen Bedürfnissen und Zielen zu sehen. Wir sollten uns nicht in übertriebener Fürsorge deren Kopf zerbrechen, sondern unsere Mitarbeiter zu allen möglichen Fragen tatsächlich vollkommen frei entscheiden lassen.
Oft genug zahlt echte Unterstützung des Mitarbeiters nicht oder nicht direkt auf die Interessen des Unternehmens ein. Dann machen wir es trotzdem. Purer Humus für Loyalität! Konkret heißt das, wenn ein Mitarbeiter z.B. seinen Meister machen will und wir wissen, dass sich danach sicher die Wege trennen, dann unterstützen wir das dennoch. Nicht nur durch Zulassen, sondern auch finanziell.
Manch einer mag das falsch finden. Wir haben uns so über viele Jahre, ja Jahrzehnte, ein sehr großes und unglaublich belastbares Netzwerk geschaffen. Kaum ein Handwerksunternehmen in von uns aktuell oder früher vertretenen Gewerken in der Region, dessen Inhaber und/oder Führungskräfte nicht bei uns gelernt, oder zumindest länger gearbeitet hat.
Noch offensichtlicher wird es bei der großen Zahl ehemaliger „Barghorner“, die jetzt als Entscheider bei unseren Kunden in Industrie und Gewerbe sitzen.
Gunnar Barghorn, vielen Dank für das Interview!
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Bild: Gunnar Barghorn
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